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eawag: Welche Flüsse und Bäche zuerst revitalisieren?


In den kommenden Jahrzehnten will die Schweiz rund 4000 Kilometer beeinträchtigter Fliessgewässer revitalisieren. Basierend auf wissenschaftlichen Kriterien haben Forschende der Eawag ein Priorisierungsschema entwickelt, um Gewässerabschnitte zu ermitteln, für die Aufwertungsmassnahmen ökologisch besonders zielführend sind. Damit sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich Gewässer wieder dynamisch selber entfalten können.

Text: Andres Jordi


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Abb. 1: Bei Flussrevitalisierungen gilt es die dynamische Selbstentfaltung der Gewässer zu fördern. (Foto: Armin Peter)

In den kommenden 80 Jahren müssen die Kantone ein Viertel jener Flüsse und Bäche revitalisieren, die stark verbaut und in einem ökologisch schlechten Zustand sind. Das schreibt das 2011 geänderte Gewässerschutzgesetz vor. Schweizweit sind das rund 4000 Gewässerkilometer. Dabei gilt es, die richtigen Prioritäten zu setzen. Doch bei welchen Gewässern lohnen sich Revitalisierungen besonders? Nach welchen Kriterien sollen sie bestimmt werden? Welche Massnahmen braucht es in den ausgewählten Gebieten? Um die Kantone bei der Priorisierung und Planung zu unterstützen, beauftragte das Bundesamt für Umwelt die Eawag, entsprechende Entscheidungsgrundlagen zu entwickeln. «Unsere Empfehlungen beschränken sich auf die ökologischen Aspekte», sagt Armin Peter, einer der beteiligten Wissenschafter. «Gesellschaftliche und wirtschaftliche Gesichtspunkte bestimmen die Prioritätensetzung mit und müssen selbstverständlich ebenfalls in eine Evaluation einfliessen.»


Die Liste der Beeinträchtigungen ist lang

Das Gewässerschutzgesetz gibt das ökologische Ziel vor: Revitalisierungsmassnahmen sollen ermöglichen, dass sich ein Gewässer in einen naturnahen Zustand zurückentwickelt, in welchem die Ökosystemprozesse wieder funktionieren und eine standortgerechte Biodiversität vorhanden ist. Um Fluss- und Bachabschnitte hinsichtlich ihres Revitalisierungspotenzials zu beurteilen, schlagen die Forschenden ein mehrstufiges Vorgehen anhand eines Priorisierungsschemas vor.

Am Anfang steht die Defizitanalyse. Als eine der markantesten Beeinträchtigungen der Schweizer Fliessgewässer identifizieren die Wissenschafter die mangelnde Vernetzung der Lebensräume. Künstliche Schwellen, Wehre oder Staustufen fragmentieren die Flussläufe und stellen für viele Wasserorganismen unüberwindbare Barrieren dar. Uferbefestigungen und verdichtete Flusssohlen erschweren den Austausch mit der Umgebung. Der Kraftwerkbetrieb führt zu starken Wasserstandschwankungen sowie geringen Restwassermengen und verändert die Geschiebedynamik. Dies wirkt sich auf viele Arten negativ aus. Mikroverunreinigungen und Nährstoffe beeinträchtigen die Wasserqualität. Der Klimawandel, Einleitungen von erwärmtem Kühlwasser oder kaltem Tiefenwasser aus Stauseen verändern die Gewässertemperaturen und damit die Lebensbedingungen. Begradigte und befestigte Flüsse und Bäche führen zu gleichförmigen Habitaten.

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Abb. 2: Mangelnde Vernetzung: Uferbefestigungen und verdichtete Flusssohlen wie hier bei einem Zufluss zum Neuenburgersee verunmöglichen den Austausch mit der Umgebung. (Foto: Armin Peter)


Gegen die vielfältigen ökologischen Defizite schlagen die Forschenden eine Reihe konkreter Massnahmen vor. Diese reichen von der Entfernung von Befestigungen über Gerinneaufweitungen, das Anlegen vegetationsreicher Uferstreifen und Pufferzonen bis zu Anpassungen des Abflussmanagements und Verbesserungen bei der Abwasserreinigung. «Revitalisierungen sollten an den jeweiligen Standort angepasst sein, möglichst vielen Arten nützen und die dynamischen Prozesse wiederherstellen», sagt Peter.


Das Erholungspotenzial und den ökologischen Wert abschätzen

Bei der Auswahl der Fliessstrecken, die vorrangig zu revitalisieren sind, gilt es sodann, deren Erholungspotenzial abzuschätzen. Dieses hängt massgeblich vom Zustand der Einzugsgebiete ab und davon, wie die Flächen in das Gewässernetz eingebunden sind. So können sich ökologische Beeinträchtigungen irgendwo in einem Einzugsgebiet auf Gewässerabschnitte anderswo negativ auswirken und Revitalisierungsbemühungen dort zunichtemachen. Bei der Wiederbesiedlung revitalisierter Flächen spielen Einzugsgebiete als Artenpools eine wichtige Rolle. Damit neue Arten in die aufgewerteten Gebiete einwandern können, müssen diese mit solchen Quellpopulationen geografisch vernetzt sein. Eine Studie der Eawag-Forscher Gregor Thomas und Armin Peter weist zum Beispiel für die Mönchaltorfer Aa (ZH) nach, dass diverse Fischarten gut vernetzte Bereiche in weniger als einem Monat wiederbesiedeln können. Untersuchungen der Wissenschafter im Lochrütibach (NW) zeigen umgekehrt, dass bei schlechter Vernetzung trotz Revitalisierung keine neuen Arten aus der Umgebung einwandern.

Bei der Priorisierung ist überdies zu berücksichtigen, dass nicht alle Gewässerabschnitte ökologisch gleich wertvoll sind. In Gebieten mit seltenen oder vielen verschiedenen Arten und Lebensräumen beispielsweise sind Revitalisierungen vordringlich durchzuführen. Auch Flächen, die eine spezielle Funktion innehaben, etwa weil sie Laichhabitate enthalten oder wandernden Arten als Migrationskorridore dienen, haben eine hohe Priorität. Um den ökologischen Wert eines Gewässerabschnitts zu beurteilen, existieren entsprechende Bewertungsverfahren wie zum Beispiel das Modul-Stufen-Konzept. Um eine grössere Stabilität der naturnahen Ökosysteme zu erreichen, sollte laut den Forschenden der Zustand grösserer zusammenhängender Strecken verbessert werden. «Das kann geschehen, indem man Lücken zwischen intakten Gebieten schliesst oder diese erweitert», erklärt Peter. Um die Erfolgsaussichten zu erhöhen, sei es zudem wichtig, dass auch andere Beeinträchtigungen, etwa der Wasserqualität oder des hydrologischen Regimes, behoben würden.


Eine Vernetzung mit benachbarten Habitaten ist zentral

Sind die bevorzugt zu revitalisierenden Gebiete anhand des Priorisierungsschemas ausgewählt, folgt für sie eine Prioritätensetzung bei den Massnahmen. Als vordringlichstes Ziel erachten die Eawag-Wissenschafter die gute Vernetzung. Deshalb müssen fragmentierte Abschnitte und isolierte Lebensräume als Erstes wieder besser ins Gewässersystem eingebunden werden. «Die Revitalisierungsmassnahmen sollten in der Nähe naturnaher Abschnitte gestartet werden, so dass Arten rasch aus diesen in die aufgewerteten Gebiete einwandern können», sagt Peter. Weiterführende Massnahmen sollen zu einer naturnahen Hydro- und Geschiebedynamik führen sowie eine gute Wasserqualität gewährleisten. Dass sauberes Wasser insbesondere für Wirbellose wie Insektenlarven oder Krebse wichtig ist, zeigt eine Untersuchung der Eawag ebenfalls an der Mönchaltorfer Aa. Simone Baumgartner und Christopher Robinson stellten fest, dass die Artenvielfalt bei den Makroinvertebraten in einem revitalisierten Abschnitt nicht zunimmt, weil weiterhin Nährstoffe in das Gewässer gelangen.

Das Merkmal einer natürlichen Flusslandschaft ist, dass ihre Lebensräume einem konstanten Wandel unterliegen. Dies ist für viele Arten essenziell, weil ihr Lebenszyklus von solchen Veränderungen abhängt. «Revitalisierungen müssen die Voraussetzungen schaffen, dass sich Gewässer wieder dynamisch selber entfalten können», sagt Peter. Als weitere Massnahme kann deshalb eine Sanierung des Uferraums die dafür nötigen Erosionsprozesse und den Eintrag von Totholz fördern. Um strukturreiche und dynamische Habitate zu schaffen, ist unter Umständen zudem eine Veränderung der Gewässermorphologie notwendig.

«Prognosen, welche Massnahmen sich in einem Gewässerabschnitt wie auswirken, erachten wir als essenziellen Bestandteil des Priorisierungsprozesses», sagt Peter Reichert, der im Projekt die Bereiche Modellierung und Entscheidungsunterstützung bearbeitete. «Sie bilden die Grundlage für eine rationale Entscheidungsfindung.» Erfolgskontrollen von abgeschlossenen Revitalisierungen können dabei wichtige Informationen liefern. So zeigen die Forschenden in einer Auswertung von 62 Revitalisierungsprojekten in Deutschland und der Schweiz zum Beispiel, dass kleinräumige Habitat-Aufwertungen die Situation für die Fischfauna nicht substanziell verbesserten. Auch mathematische Modelle sind ein taugliches Prognosewerkzeug. Mit dem von der Eawag entwickelten Modell Streambugs etwa lässt sich beurteilen, wie Aufwertungsmassnahmen in Fliessgewässern die Wirbellosengemeinschaft beeinflussen.