Gefangen im See
Ähnlich wie Seeforellen hierzulande ziehen die Flussheringe an der Ostküste der USA als Jungfische aus Süsswasserseen ins Meer und schwimmen ebenfalls erst zur Paarung wieder in ihre heimatlichen Gewässer. Auch diese wandernden Fische hat Jakob Brodersen untersucht, um herauszufinden, was geschieht, wenn sie daran gehindert werden.
Denn in manchen Gebieten ist das natürliche Wanderverhalten der Flussheringe durch menschliche Eingriffe nicht mehr möglich: Siedler bauten dort während der Kolonisation vor rund 300 Jahren Dämme und versperrten den Fischen somit den Zugang zum Meer. In einigen dieser künstlich isolierten Seen kommen heute gar keine Flussheringe mehr vor. In anderen haben sich die Flussheringe dagegen über Generationen hinweg den veränderten Bedingungen gut angepasst und ihr Verhalten im Laufe der Zeit vollständig geändert: Sie leben mittlerweile nur noch im offenen Wasser.
Wie Brodersen zusammen mit Kollegen in den USA vor kurzem in der Fachzeitschrift «
Nature Communications» berichtet hat, wirkt sich dieses eigentlich für Flussheringe untypische, aber an die neuen Verhältnisse angepasste Verhalten sogar auf das gesamte Ökosystem des Sees aus – bis an die Spitze der Nahrungskette, wo grosse, kräftige Kettenhechte zu den Top-Prädatoren gehören. «Der Jäger ist praktisch der neuen, fetten Beute gefolgt», erklärt Brodersen. Und habe auf die veränderte Situation reagiert.
So lauert ein Teil der Kettenhechtpopulation nicht mehr Sonnenbarschen im Schilf am Ufer auf, sondern hat mehr und mehr die einst ins Meer wandernden Flussheringe ins Visier genommen und diese als lukrativen Leckerbissen entdeckt. Dafür haben sich die Hechte neue Jagdtechniken angeeignet. Denn im Freiwasser dauert eine Verfolgung deutlich länger und benötigt auch mehr Ausdauer.
Um Jäger und Beute einzufangen und zu analysieren, haben die Wissenschaftler jeweils am Nachmittag viermal zu verschiedenen Jahreszeiten Netze in 12 verschiedenen Seen an der Ostküste aufgestellt. Am Abend gingen die Forscher dann zurück, um zu schauen, was ihnen ins Netz gegangen ist.
Ein gefundenes Fressen
Den Fang haben sie anschliessend geradezu kriminalbiologisch inspiziert. Neben den üblichen DNA-Tests führten sie unter anderem eine Untersuchung des Mageninhalts der Tiere durch. Was war ihr letztes Mahl? Und was frisst ein Kettenhecht im offenen Wasser am meisten? «Das Ergebnis war eindeutig», sagt Brodersen. Vor allem Flusshering, Flusshering und nochmals Flusshering.
Erstaunlich ist, dass auch Kettenhechte in den beiden unterschiedlichen Lebensräumen – vergleichbar mit der See- und Bachforelle – zwar immer noch zur selben Art gehören, aber völlig anders aussehen. Im Freiwasser sind sie wesentlich muskulöser und gleichzeitig hydrodynamischer gebaut, haben jedoch einen kleineren Kopf. Ideal für eine ausdauernde, aber auch energiezehrende Verfolgungsjagd durch die Weiten des Sees.
Auch hierzulande, im Vierwaldstättersee, gibt es Ufer- sowie Freiwasserhechte. Die Formenvielfalt im See sei gross und vor allem durch Veränderungen der Umwelt auch ständig im Fluss, sagt Brodersen. Doch bevor er auch noch die hiesigen Hechte unter die Lupe nehme, hoffe er erst einmal, dass er diesen Herbst schon ein paar seiner Forellen wiedersehe. Vermutlich sei es aber noch zu früh und sie kämen erst nächstes Jahr zurück.
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 05.11.2015, 23:02 Uhr)