Ganz überraschend kam diese Entdeckung für das Team um die Evolutionsbiologen und Fischökologen Ole Seehausen und Jakob Brodersen nicht. Denn die Süsswasserseen Grönlands wurden nach der Eiszeit nur von Saiblingen und Stichlingen besiedelt, äusserst selten steigen auch Lachse und Aale aus dem Meer auf. So hatten die Saiblinge kaum Konkurrenz, als sie die ökologischen Nischen in den Seen besetzten. Zudem weisen die Saiblinge in Südgrönland eine Mischung der Erbanlagen zweier evolutionärer Linien auf, einer aus dem Atlantik und einer aus der Arktis. Dieser genetische Reichtum hat möglicherweise die schnelle Artbildung und Spezialisierung auf unterschiedliche ökologische Nischen erleichtert.
Mehr Nischen, mehr Spezialisten
Von den sechs Saiblings-Arten im Tasersuaq, dem grössten der sieben untersuchten Seen, ist eine auf Insektenlarven und Weichtiere aus dem ufernahen Seeboden (Benthos) spezialisiert, eine auf das Plankton im offenen Wasser, und zwei auf Stichlinge und junge Saiblinge; eine kleine Art lebt in den Tiefen des Sees, und eine wandert ins Meer. Dabei zeigen die Fische die unterschiedlichsten morphologischen Anpassungen an ihre Lebensweise: Die kleine Art aus der Tiefe hat zum Beispiel besonders grosse Augen, und der lange, schlanke Körper der Planktonspezialisten ist eine typische Anpassung ans Offenwasser.
Die genetischen Unterschiede belegen, dass es sich dabei nicht nur um ökologische Anpassungen innerhalb einer Art handelt, sondern um unterschiedliche Arten, die sich schon seit längerer Zeit kaum mehr mit den anderen Saiblingsarten im See fortgepflanzt haben.
Weniger Vielfalt, engere Grenzen
In den kleineren Seen fanden die Biologen nur zwei oder drei Saiblingsarten, in den kleinsten nur je eine. Diese Fische sind entweder auf benthische Nahrung aus dem seichten Seegrund spezialisiert, oder sie sind „Generalisten“ – sei’s, weil sie wandern und dabei unterschiedliche Lebensräume nutzen, sei’s, weil die kargen Ressourcen keine Spezialisierung zuliessen.
In einem der kleinen Seen zeigen die einzelnen Fische in ihrem Körperbau Anpassungen an unterschiedliche ökologische Nischen, obwohl sie alle zur selben Art gehören. Die morphologischen Spezialisierungen sind aber weit schwächer ausgeprägt als bei den unterschiedlichen Arten in den grösseren Seen – ein Hinweis, dass der ökologischen Anpassung an mehr als eine Nische ohne Artbildung engere Grenzen gesetzt sind. Oder umgekehrt: Artbildung ist nicht nur auf ökologisch vielfältige Lebensräume angewiesen, sie trägt auch dazu bei, Grenzen der ökologischen Anpassung an unterschiedliche Lebensräume zu überwinden.
Hunderte Arten vermutet
«Unsere Saiblingsuntersuchungen im Eqaluit-System bestätigen die Annahme, dass die schnelle Artbildung durch eine Kombination aus vielfältigen Erbanlagen und einer ökologisch vielfältigen Umwelt begünstigt wird», sagt Carmela Dönz. Ihr Team vermutet deshalb in zahlreichen Süsswasserseen an Grönlands Küsten noch Hunderte Saiblingsarten, die wissenschaftlich noch nie beschrieben wurden.
Ein seltener Spezialfall
Die beiden fischfressenden Arten im Tasersuaq-See sehen sich zwar zum verwechseln ähnlich und nutzen über weite Strecken auch die gleichen Lebensräume; ihre Erbanlagen unterscheiden sich allerdings so stark, dass es sich zweifelsfrei um unterschiedliche Arten handelt. Dass sich zwei unterschiedliche Arten in benachbarten Lebensräumen auf die gleiche ökologische Nische spezialisieren und dabei auch die gleichen morphologischen Eigenschaften entwickeln, kommt vor allem in grossen Radiationen hin und wieder vor. Doch die Koexistenz von zwei nah verwandten Arten mit beinahe identischen Anpassungen in fast vollständiger Sympatrie ist in der Natur extrem selten.