Verlorene Gene?
Merkmale wie das Alter bei Erreichen der Geschlechtsreife oder die Wachstumsgeschwindigkeit werden bei Fischen meistens von den herrschenden Umweltbedingungen mitbeeinflusst. In Jahren mit günstigen Bedingungen wachsen Fische schneller und wenn Fische schnell wachsen, pflanzen sie sich tendenziell in jüngerem Alter fort. Solche mit dem Wachstum oder der Fortpflanzung in Zusammenhang stehende Merkmale sind aber nicht nur von der Umwelt abhängig, sondern haben oft auch eine genetische Komponente. Das heisst, sie werden von den genetischen Eigenschaften eines Fisches mitbestimmt und an dessen Nachkommen vererbt. Nachkommen von frühreifen Fischen werden aufgrund ihrer geerbten, genetischen Eigenschaften häufiger in jungem Alter geschlechtsreif als Nachkommen von spät-reifen Fischen.
Die bei Dorschen, Heringen oder Schollen beobachteten Veränderungen in Wachstums- und Reifemustern gehen also sehr wahrscheinlich Hand in Hand mit Veränderungen der genetischen Eigenschaften der Fischpopulationen: In stark befischten Populationen werden Gene, die für späte Reife und langes Wachstum kodieren, seltener oder gehen gar vollständig verloren (
PDF: Schema „Wie die Fischerei genetische Vielfalt reduzieren kann"). Dies hat zur Folge, dass eine Rückkehr zu den vorherigen genetischen Eigenschaften nicht ohne weiteres möglich ist. Im Beispiel der Dorsche sind die Fische nach der überfischungsbedingten Schliessung der Fischerei in den 90er Jahren bis heute nicht wieder später reif geworden und schneller gewachsen. Möglicherweise fehlt ihnen heute die genetische Ausstattung dafür. Übersetzt könnte man sagen, dass in der Bibliothek der genetischen Eigenschaften der Dorsche Bücher fehlen.
Konsequenzen für Fischerei, Genetik und das Ökosystem
Die Folgen der evolutionären Veränderungen der Dorsche als Antwort auf die Fischerei sind vielfältig. Wenn Fische ihre Energie in jüngerem Alter in die Fortpflanzung und nicht mehr ins Wachstum investieren, kann dies nicht nur zu tieferen fischereilichen Erträgen und entsprechenden ökonomischen und gesellschaftlichen Problemen führen, sondern auch die Anpassungsmöglichkeiten der Fische verringern: Durch den Verlust von Genen, die Wachstum- und Fortpflanzungsmuster beeinflussen, sinkt wahrscheinlich auch die Kapazität der Dorsche, durch Evolution auf zukünftige Umweltveränderungen reagieren zu können. Und schliesslich haben die Überfischung und möglicherweise auch die veränderten Wachstums- und Fortpflanzungsverhältnisse der Dorsche weitreichende Folgen für die Nahrungsnetze und das Funktionieren des Lebensraumes Meer.
Evolutionäre Antwort auf die Fischerei auch in Schweizer Seen
Wenn die Fischerei stark grössenselektiv ist - grosse und schnell wachsende Fische viel häufiger gefangen werden als kleinere und langsam wachsende Fische - werden frühe Reife und verlangsamtes Wachstum weiter begünstigt. Folglich steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Wachstums- und Fortpflanzungsstrategien der Fische verändern. Die Fischerei mit Kiemennetzen in Schweizer Seen gehört zu denjenigen Fischereitechniken, die stark grössenselektiv fangen: Zu kleine Fische schwimmen ganz einfach durch die Maschen der Netze hindurch, ohne sich darin zu verfangen.
In den letzten paar Jahren haben mehrere wissenschaftliche Arbeiten untersucht, ob die Fischerei bei Schweizer Felchen zu veränderten Wachstums- und Fortpflanzungsstrategien führt. Dabei zeigten Forschende der Universität Konstanz, dass im Bodensee eine Abnahme in der Fruchtbarkeit der Felchen wahrscheinlich auch mit der grössenselektiven Fischerei in Zusammenhang steht. Wissenschaftler der Universität Lausanne schätzten, dass am Lac de Joux ein Drittel des zwischen 1980 und 2005 beobachteten Wachstumsrückgang der Felchen auf durch die Fischerei hervorgerufene evolutionäre Anpassung zurück zu führen sei. Ähnliche Resultate erzielten dieselben Forscher für zwei Felchenarten des Brienzersees.
Alternative Erklärungen?
Eine grosse Herausforderung bei solchen Studien ist mit Sicherheit festzustellen, ob die beobachteten Veränderungen wirklich auf eine in den Genen der Fische gespeicherte Anpassung an die Fischerei zurückzuführen ist (Evolution) oder ob es sich auch um nicht-genetische Anpassungen handeln könnte (sogenannte phänotypische Plastizität). Grundsätzlich gelten nicht-genetische Veränderungen als weniger problematisch, weil sie durch Anpassung der Fischereipraxis einfacher rückgängig zu machen sind.
Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, zu unterscheiden ob eine Veränderung in der Grösse (oder der Fruchtbarkeit) der Fische tatsächlich auf die Fischerei zurückzuführen ist oder ob eine andere Ursache wie zum Beispiel eine zeitgleiche Temperaturveränderung dafür verantwortlich sein könnte. Dank raffinierten Methoden und recht komplexen statistischen Verfahren ist eine solche Unterscheidung für Wissenschaftler in vielen Fällen möglich.
Insgesamt führen detaillierte Untersuchungen verschiedener Fischpopulationen und ihrer Umwelt, kombiniert mit überzeugenden Labor-Experimenten und mathematischen Modellen zu einer ziemlich erdrückenden Indizienlast: Evolution als Antwort auf die Fischerei ist real und die Fischerei darf als mögliche Ursache nicht ausgeblendet werden, wenn es darum geht, Veränderungen in Verhalten, Wachstumsraten und Fruchtbarkeit befischter Fischpopulationen über die Zeit zu verstehen und zu erklären.
Evolution durch Angeln?
Auch vor der Angelfischerei macht die Evolution als Antwort auf die Fischerei wohl nicht Halt: Diverse wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass erkundungsfreudige Fische öfter an den Haken gehen, als ihre vorsichtigeren Artgenossen. Andere Experimente zeigen, dass Charaktereigenschaften wie „erkundungsfreudig sein“ oder „vorsichtig sein“ teilweise in den Genen der Fische gespeichert sind und vererbt werden. Werden diese Erkenntnisse kombiniert, muss davon ausgegangen werden, dass Angeln bei Fischen eine im Erbgut gespeicherte Veränderung in Richtung schüchternere und vorsichtigere Fische verursachen kann.
Eine Serie von Untersuchungen aus den USA demonstriert das Zusammenspiel von Evolution und Angelfischerei anhand von Forellenbarschen (Micropterus salmoides) besonders überzeugend (Abbildung 2). Forellenbarsche sind Raubfische, die natürlicherweise in Seen in Nordamerika zu finden sind. Heute sind sie aufgrund ihrer Attraktivität für die Fischerei und Besatzmassnahmen auch in zahlreichen Gewässern ausserhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebietes zu finden. Vor der Laichzeit bauen die Fische Nester, welche sie während der Entwicklungszeit der Eier und der jungen Fischlein bewachen und gegen mögliche Bruträuber verteidigen.